2020 ist vorüber. Das Jahr mit einer steilen Lernkurve, viel Frust, sehr vielen Spaziergängen, äußerst viel Zeit mit der Kernfamilie, viel Intensität und Nähe, aber auch lähmenden Gedanken, weil es keine Feste gab, nichts planbar war, Theater, Konzerthäuser und Galerien geschlossen waren und irgendwie alles aus eigener Kraft geschehen musste.
Ein Jahr voller Bücher, Playlisten und neuen Rezepten. 2021 hat als Jahr der Hoffnung begonnen und auch, wenn es jetzt noch nicht so aussieht, will ich doch glauben, dass es wieder bergauf geht. Und dass die Lähmung endet und es wieder mehr zu erleben, schreiben, und erzählen gibt.
Es sollen also wieder mehr Blogeinträge folgen. Dieses Mal mit einigen Büchern, die mich in den letzten12 Monaten aus sehr unterschiedlichen Gründen überrascht haben.
Lionel Shriver. The Post-Birthday World. (2015)
Ein wenig voreingenommen aufgrund von "We need to talk about Kevin" hatte ich wieder ein sehr traumatisches Thema erwartet und war angenehm überrascht, dass in diesem Buch ein "Was wäre wenn"-Szenario verfolgt wird. Wie könnte ein Leben verlaufen, wenn man in einem entscheidenden Moment ganz unterschiedlich handeln würde? Der Gedanke an den Film "Sliding Doors" liegt nahe, aber das Buch ist sehr viel cleverer und komplizierter.
Irina ist in einer Beziehung mit einem bodenständigen, vielleicht etwas langweiligen Mann, der sie liebt und mit dem sie glücklich ist. Doch dann küsst sie einen sehr gut aussehenden Snooker-Spieler an dessen Geburtstag und ihr Leben gerät auf eine ganz andere Bahn. Bzw. sie küsst ihn nicht und alles bleibt, wie es ist. Aber natürlich bleibt in "beiden" Leben nichts, wie es ist und keins der Lebensmodelle ist "besser" als das andere. Aber oi - hat Irina in der einen Version Spaß. Da wird kein Blatt vor den Mund genommen und die Erotik voll ausgelebt. In der bodenständigen Variante hat sie beruflichen Erfolg, gute Freunde und wenig Streit. Ich war begeistert und wollte unbedingt wissen, wie diese beiden Stränge zu einem Ende kommen. Auch das - sehr gekonnt...
Tara Westover. Educated. (2018)
Dieses Buch ist die autobiografische Erzählung der Kindheit und Jugend der Autorin. Aufgewachsen im ländlichen Idaho in einem Mormonenhaushalt hatte Tara keine Geburtsurkunde, da die Eltern sie niemals registrieren ließen, keine Schulbildung, weil der Vater nicht glaubte, dass in der Schule etwas Sinnvolles zu lernen sei und sie war auch nie beim Arzt, weil die Eltern meinten, man könne alles mit Pflanzen und Kräutern heilen. Egal, ob dem Bruder bei einem Unfall ein Bein zerquetscht wird, es Verbrennungen oder andere Wunden gibt - kein Arzt! Mit der Zeit wird der Vater immer fundamentalistischer, der Bruder gewalttätiger und übergriffiger und Tara widerspenstiger. Sie WILL lernen und mehr von der Welt sehen, andere Perspektiven kennenlernen und verstehen.
Der Roman beschreibt ihren Kampf, den Spagat zwischen Familie und Bildung zu schaffen, der ihr jedoch nicht gelingen kann, weil ihre Familie alle ihre Entscheidungen ablehnt, ignoriert oder bekämpft. Ein wirklich hartes Buch, bei dem mich mit am meisten erschüttert hat, dass Tara nicht vom Mittelalter sondern den 1990er und 2000er Jahren erzählt.
Amy Tan. Saving Fish from Drowning. (2006)
Ich bin ein großer Fan von Amy Tan, deren Romane meist die Schicksale von Amerikanerinnen mit chinesischen Wurzeln beschreiben. Oft ist es die Reibung zwischen den Generationen und den unterschiedlichen Kulturen, an denen sich Tan abarbeitet.
In "Saving Fish vom Drowning" dreht sie den Spieß um und schickt eine Reisegruppe reicher Amerikaner nach Burma. Der einzige Haken ist, dass die Reiseleiterin (die auch die Erzählerin des Romans ist) kurz vorher stirbt und die Gruppe mit einem schlecht informierten Ersatzreiseleiter fährt. Die Gruppe "geht verloren" und endet nach einer Reise kultureller (und sehr unterhaltsamer) Faux-Pas im Dschungel Burmas bei einem Stamm, der auf seinen Erlöser wartet, weil das Militärregime im Begriff ist, ihn auszurotten. Sehr ernste Themen wie Diktatur, Reichtum, kulturelles Erbe, Religion, Respekt, Liebe, Vertrauen und Beziehungen werden mit Humor und Ironie behandelt und obwohl die Protagonisten häufig im Schlusssprung in den Fettnapf tappen, werden sie doch mit Sympathie beschrieben und niemals lächerlich gemacht. Großartig und erfrischend.
Julie Zeh. Leere Herzen. (2017)
Im Gegensatz zu Unterleuten treibt "Leere Herzen" die Desillusion mit einer hübsch absurden Idee und viel Ironie auf die Spitze. Britta hat irgendwann den suizidgefährdeten Babak kennengelernt und sein Scheitern bei seinem Vorhaben in eine Geschäftsidee verwandelt. Nach außen hin bietet sie psychologische Betreuung an, hinter der Fassade steckt aber etwas ganz anderes. Leider bekommen Britta und Babak Trittbrettfahrer, die versuchen, die Firma auszuhebeln. Dabei geht es rasant zur Sache und irgendwann ist auch Brittas Leben nicht mehr sicher.
Ich hätte von Julie Zeh gar nicht so viel Schmiss erwartet, denn sie zieht die Idee konsequent bis zum Ende durch. Dann ist allerdings nichts mehr, wie es war und es gibt auch kein Zurück mehr in die alte Welt.
Tolle Beschreibungen und Gedanken dazu - nun habe ich Lust, diese Buecher auch zu lesen. Vor allem Juli Zeh, die ich bisher gerne las. Danke!